
Hospizbewegung Gmunden
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Widerstand zwecklos?
Widerstand – sich widersetzen, sich entgegenstellen, Auflehnung, Gegenwehr, Opposition, Resistenz
und weitere Definitionen dieses Wortes sind zu finden – ein Substantiv, maskulin - in seiner
vielfältigen Bedeutsamkeit nachzuschlagen im Duden.
Nicht nur ein Wort, sondern als aktive, sich wiederholende Sequenz im Arbeitsleben eines Polizisten
präsent. Widerstand fordert so seine Berechtigung ein, intensives Aufmerksamsein und Achtsamkeit
inkludiert. Die Exekutive verursacht nicht nur Stau, bei ungeliebten Verkehrskontrollen, sondern ist in
vielfältigster Weise für die Sicherheit der Bevölkerung verantwortlich.
Die Sicherheit des Mannes in dieser Geschichte – ein Polizist - gerät unerwartet ins Schleudern. Ein
schön begonnener Tag endet für Herrn S. in lebensbedrohlicher Situation. Ein scheinbar harmloser
Husten geht schnell in einen heftigen Erstickungsanfall über. Notarzt, Rettung, Krankenhaus. Was
geht gedanklich vor in einem Mann wie ihm, in dieser, die Existenz bedrohenden Notsituation?
Verschwimmen die Grenzen zwischen Privatperson und einsatzbereitem Polizisten? Ist rationales
Denken überhaupt noch möglich in Anbetracht von Lebensgefahr?
Besonders nachts sind die Dienste fordernd. Raufereien, Verkehrssünder, Drogendelikte, Einbrüche
und so weiter. Widerstand gegen die Staatsgewalt – immer wieder im Dienst auf Konfrontation
gefasst sein zu müssen, sich immer mit Gewissenhaftigkeit auf Unvorhersehbares einstellen zu
müssen – auch hier - bei uns am Land, nicht nur in der Großstadt.
Diagnose? Es gibt keine Diagnose für den erlittenen lebensbedrohlichen Zustand von Herrn S. Kein
eindeutiges Asthma, keine eindeutige COPD. Es geht ihm wieder gut – dank seiner Widerstandskraft.
Darf er sich sicher fühlen? Wie jemand, der unter Polizeischutz steht? Ist er geheilt? Zwei Wochen
danach - das gefährliche Szenario wiederholt sich für Herrn S. – dieses Mal zuhause beim Grasmähen.
Notarzt, Rettung, Krankenhaus.
Viele Male haben dienstliche Einsätze so begonnen. Auf Streife zu fahren und sich des Risikos bewusst zu sein, mit gesundheitlichen Folgen rechnen zu müssen – das erfordert Mut. Drei Mal selbst einen Unfall am eigenen Leib zu erleben, mehrere, zum Teil schwere Verletzungen zu überstehen und trotzdem weiter zu machen? Auf Anraten der Ärzte will er den Dienst mit dem Motorrad beenden und stößt auf Unverständnis und Widerstand bei seinen Vorgesetzten.
Zurück in seine eigene Notfallsituation - die Mediziner sprechen dieses Mal von einer Allergie,
ausgelöst durch ein bestimmtes Unkraut. Verschiedenste Medikamente werden versucht, um seinen
Zustand zu stabilisieren. Eineinhalb Jahre lang laufende Kontrolluntersuchungen - eine ungeliebte
Prozedur. Beinahe schon zur Routine gewordene Fahrten ins Krankenhaus und je nach
Befundsituation - stationäre Aufnahme oder Heimfahrt.
Die einzig wirklich handfeste Diagnose ist die immer schlechter werdende Durchblutung, die den
Mann stückweise seiner Gesundheit beraubt und die Nierenwerte unaufhaltsam verschlechtert. Die
Blutwäsche steht im Raum - körperliches und seelisches Widerstreben haben keine Chance mehr.
Druck von allen Seiten wird für ihn spürbar und die Angst zu sterben - das schürt die Motivation, mit
der Dialyse ´Freundschaft´ zu schließen.
Die wirklich schlimmen Momente während der aktiven Zeit als Polizeibeamter sind nicht die
verbalen Attacken von straffällig gewordenen Mitbürgern. Die bringen ihn nicht aus der Ruhe. "Du
dre… Bulle", "sch… Kibara", "Polyp" sind noch die harmloseren Ausdrücke, die ihm im Drogen und
Alkoholrausch entgegengeschleudert werden. Immer mit unmissverständlich widerständigem
Verhalten konfrontiert zu sein, erfordert Selbstbeherrschung - bedingungslos. Solche und ähnliche
emotionale Eskalationen spielen sich fast immer nachts ab. Wirklich schlimm ist es an Weihnachten
und Silvester. Da spielen sich die wahren Familiendramen ab - alle Jahre wieder.
Die Dialyse muss jetzt begonnen werden, zuerst zwei, später drei Mal pro Woche. Ein Jahr lang mit
dem Taxi, dann mit der Rettung ins Krankenhaus zu fahren kostet Herrn S. viel zu viel Kraft. Wenn er
zuhause ankommt, ist er beinahe erstarrt vor Kälte, hinein bis in den letzten Knochen, fast
bewegungsunfähig, aber froh, in sein Bett zu kommen. Vorgewärmt - mit Wärmeflaschen. Unendlich
müde, jedes Mal wieder aus der Erstarrung in die Wirklichkeit zurück zu finden.
Drei Mal die Woche, keine Besserung in Sicht – seine Ungeduld gegenüber der wenig erfolgreichen
Therapie nimmt zu. Die schlechter werdende Durchblutung in den Beinen leider auch. Über den
möglichen Verlust der Großzehen muss gesprochen werden – eine Amputation steht im Raum. Die
Angst, dass Herr S. dann nicht mehr gehen wird können, lässt den Widerstand gegen die Operation
immer stärker werden. Die Zehen werden jeden zweiten Tag unter sterilsten Bedingungen
verbunden, um das Risiko einer Infektion zu vermeiden.
Die Situation entgleist – eine schwere Lungenentzündung bringt Herrn S. dem Tod sehr nahe. Er muss
intensivmedizinisch behandelt werden – eine eindeutige Ursache wird wieder nicht gefunden - nur,
dass der Kehldeckel nicht richtig schließt. Essen auf natürlichem Weg wird nicht mehr möglich sein.
"Ihr Mann ist ein schwerkranker Mensch – er hat nicht eine Baustelle, sondern viele", – so die
ehrliche, aber auch eindeutige Aussage einer Ärztin.
Die PEG-Sonde zur Ernährung lehnt Herr S. kategorisch ab – sein Wille muss respektiert werden, trotz
ärztlicher Empfehlung. Dieses Widerstreben erspart Herrn S. aber nicht die Implantation eines Porth.
Das ist ein Zugang zu einer großen Vene, um künstliche Nahrung möglich zu machen.
Die Dialyse wird in gewohnter Weise weitergeführt – drei Mal jede Woche. Dann kommt es zum ersten Zwischenfall mit einem Zusammenbruch des Kreislaufs und Wasser in der Lunge. Herr S. kann und will nicht mehr - ´tats des weg, des Klumpat und de Schläuch!´ Sein Widerstand gegen die Therapie wird immer größer. Erneuter Zwischenfall eine Woche später, wieder muss vorzeitig abgebrochen werden.
So hat es keinen Sinn mehr. Im Gespräch mit den verantwortlich behandelnden Ärzten wird ein Reduzieren der Dialyse auf zwei Mal pro Woche festgelegt. Endlich ein Lichtblick – die belastenden Fahrten und Behandlungen im Krankenhaus nur noch zweimal ertragen zu müssen schenkt Herrn S. beinahe so was wie Zufriedenheit. Er lebt auf und genießt sein Zuhause. Dankbar saugt er den Frieden und die Natur rund um sein Haus bis in den letzten Winkel seines geschundenen Körpers auf.
Abgemagert, ein Schatten seiner selbst, aber
unbeschreiblich ruhig in sich selbst mit einem Lächeln auf seinem Gesicht genießt er es, in seinem
warmen Bett zu liegen, Zeitung zu lesen und nichts zu sagen. Sich nicht mehr erklären müssen und
keinen Widerstand zu provozieren. Einfach nur zu leben, ohne darüber nachzudenken.
Der Tag des nächsten Dialysetermins war gekommen. "Ich fahre nicht! "Mit unmissverständlicher
Klarheit und Selbstbestimmtheit entscheidet Herr S. an diesem Morgen, dass er nicht fahren wird.
"Ich kann ihn verstehen", sagt sein behandelnder Arzt. Die Ärzte müssen seine Entscheidung
respektieren – Widerstand gibt es nicht mehr.
Jeden einzelnen Tag seines Lebens, der noch bleibt, verbringt Herr S. in seinem Haus, liebevoll und
fürsorglich gepflegt von seiner Frau. Es geht ihm gut.
Die Sonne war gerade aufgegangen an einem klaren Morgen im Mai, taufrische Luft durchflutete das
Zimmer, in dem Herr S. ruhig atmet - er schläft.
Als seine Frau das Zimmer wieder betritt, ist es unerwartet still – vollkommen still, ohne Vorwarnung.
Nur das Lied der Vögel wagt es weiter durch das offene Fenster herein ….. widerstandslos.
Karin Zwirzitz
Zeitschrift LW Ausgabe 2/2019 Seite 15, 16